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Ein Plädoyer für mehr Mittelmass

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Verausgabung bis zum Zusammenbruch: Die deutsche Marathonläuferin Sabrina Mockenhaupt nach dem Zieleinlauf beim Frankfurter Marathon 2011. (Bild: Keystone)

Verausgabung bis zum Zusammenbruch: Die deutsche Marathonläuferin Sabrina Mockenhaupt nach dem Zieleinlauf beim Frankfurter Marathon 2011. (Bild: Keystone)

Jetzt in der warmen Jahreszeit sind sie wieder zu sehen: Die ausgezehrten, dünnen Beinchen, die knochigen Arme, die ausgemergelten und schmerverzerrten Gesichter – hühnerartige Wesen (Stallhaltung), deren Körper eigentlich nur eine Betriebsart kennen: Hochleistung. Genussmomente meiden diese Menschen wie der Teufel das Weihwasser. Im Glauben, ihre Leistungsintensität noch um einige Promille zu steigern, rasieren sie alle erdenklichen Körperstellen und reiben sich mit Dul-X-Gel ein: Das Joggen in ihrem Windschatten wird von einem beissenden Duft getrübt und ihre hautengen Leggins bieten einen schonungslosen Blick auf körperliche Unorte. Bringen wir es auf den Punkt: Solche Trainingsmaschinen sind eine Beleidigung für jene Menschen, denen das Wort Ästhetik etwas sagt.

Nun ist der aufgeklärte Homo sapiens mit einer gesunden Portion Toleranz ausgestattet, weshalb ihn solche Auswüchse des menschlichen Ehrgeizes nicht weiter beunruhigen sollten. Dennoch stellt sich die Frage, welchen Reiz diese Personen verspüren, wenn sie sich regelmässig körperlichen Torturen unterziehen? Sie verdienen damit weder Geld, noch steht ihnen eine verheissungsvolle Profikarriere bevor. Und ganz offensichtlich macht es ihnen keinen Spass.

«Lieber ausgezehrt statt fett»

Dabei muss vielleicht erwähnt werden, dass Sport ohne Zweifel auch das Benzin ist, das die Menschen antreibt: Regelmässige Bewegung steigert die Abwehrkräfte, hält potent und wer richtig trainiert, kann sogar intelligenter werden.

Schwitzend erklimmern wir also quasi die nächste Stufe der Evolution. Doch wer hart trainiert, sollte darauf achten, dass er optisch nicht komplett aus dem Ruder läuft. Vielleicht agieren diese Menschen politisch motiviert und ihr Trainingsfanatismus ist als Anti-Statement zur hedonistischen, im Überfluss darbenden Gesellschaft zu verstehen. Eine Art Dritte-Welt-Chic. Eine Kollegin gab mir einst zu Protokoll: «Ich bin lieber ausgezehrt statt fett». In den kommenden Monaten vollzog sie eine wundersame Wandlung vom sympathischen Dickerchen zum asketischen Hungerhaken. Dazwischen gab es nichts.

Eines Tages machte ihr Kreislauf schlapp

Intensives Laufttraining war der Auslöser: Drei Kilometer vor der Arbeit, fünf Kilometer über Mittag und nach dem Büro eine Stunde «enpowering» auf dem Strampelrad. Mein nimmermüder Hamster aus Kindertagen – Gott habe ihn selig – war ähnlich drauf. Wenn andere Siesta machten, schwitzte die Kollegin am Hang des Uetlibergs. Oben angekommen schaute sie verächtlich auf die Häuserpartien, in denen sie das faule, welke Fleisch vermutete. Die Mundwinkel in ihrem knochigen Gesicht zeigten leicht nach unten – nichts ausser Hohn und Spott auf ihren Lippen.

Sie merkte nicht, dass sie dabei zur Persiflage ihres durchtrainierten Idealbilds mutierte: Ein mit Legginsstoff umhülltes Fitnesscenter, das sich hauptsächlich von energiespendendem Trockenfutter ernährte (auch da wieder die Parallele zu meinem Hamster). Ihre Freunde begannen sich angeekelt von ihr abzuwenden, was sie noch ehrgeiziger werden liess und gleichzeitig ihren Trainingsrythmus erhöhte. Sie rannte nun einmal täglich auf den Uetliberg und hatte inzwischen die Postur einer kenianischen Marathonläuferin angenommen, auch wenn dies absolut nicht ihrem Wesen entsprach. Eines Tages machte ihr Kreislauf schlapp und sie kam zur Erkenntnis, dass das Leben so nicht mehr lebenswert ist. Sie isst nun wieder bei McDonalds.

Ein ganzer Abend mit einem übertrainierten, genussbefreiten Wesen? – Nein danke.

Doch weshalb musste es erst zum Eklat kommen, bevor sie zur Einsicht kam? Das Problem könnte in mangelnder Selbstbestätigung gründen. Auch wenn sich Schweizer gerne als offen und tolerant hinstellen: Dick sein ist hiezulande noch immer nicht en vogue. Etwas weiter scheinen diesbezüglich Länder wie Deutschland oder die USA. Dort haben festere Leute beinahe wieder den Status aus der Rennaissance erreicht. Über dem Teich ist etwa der Ausspruch «She looks healty» gleichbedeutend mit «die Gute ist ganz schön dick». Kompliment! Auch wenn dies die Krankenkassen in den Ruin treiben dürfte, so wirken pralle, feisse Putenengelskörper als Gegensatz zur ausgemergelten Hochleistungs-Brut viel sympathischer. Wer möchte schon einen Abend lang mit einem übertrainierten, genussbefreiten Wesen verbringen, das einem ständig den «du-bis-faul-Spiegel» vor die Nase hält? Zufriedenes Schmatzen! Identitätsstiftende Kurven! Ein Hoch auf die Rubensfigur!



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